Dach der Welt
Gegen Ende unserer Woche in Lhasa geht es Nadine immer schlechter. Die Symptome sind vielfältig und unspezifisch: von Fieber über trockenen Husten bis zu hohem Ruhepuls (110). Kurze Spaziergänge lassen den Puls weiter in die Höhe schnellen, und Nadine muss sich hinsetzen. Zu Hause würde man einige Tage ins Bett liegen und abwarten. Wir wollen jedoch weiter in die Höhe und deshalb ausschliessen, dass es sich um die berüchtigte Höhenkrankheit handelt. Im Spital stellt sich heraus, dass auch die Sauerstoffsättigung im Blut sehr tief ist. Die Ärzte diagnostizieren eine Kombination zwischen leichter Höhenkrankheit und Erkältung. Sie raten von einem weiteren Aufstieg ab, bis es Nadine merklich besser geht. So pausieren wir einige Tage in unserem Büssli auf einem Parkplatz und Nadine erholt sich glücklicherweise nach drei Tagen weitestgehend.
Mit frischen Kräften geht es weiter in die zweitgrösste Stadt Tibets, Shigatse. Diese beheimatet mit dem Trashilhünpo Kloster den traditionellen Sitz des Panchen Lama. Er ist nach dem Dalai Lama der zweitgrösste Führer im tibetischen Buddhismus und wird nach seinem Tode ebenfalls wiedergeboren. Nachdem 1989 der 10. Panchen Lama starb, hat eine Suchkommission, begleitet durch den Dalai Lama, die Wiedergeburt des Panchen Lama in einem Jungen gefunden. Die chinesische Regierung akzeptierte dies jedoch nicht, entführte den Jungen mitsamt seiner Familie und erkor einen anderen Panchen Lama. Dieser pendelt heutzutage zwischen Peking und dem Trashilhünpo Kloster, wird aber weder vom Dalai Lama noch den Tibetern akzeptiert. Im wunderschönen Kloster selbst sind neben der grössten Buddhastatue Tibets bis heute hunderte (der Regierung genehme) Mönche wohnhaft. Wir sind einmal mehr beeindruckt von den grossen Reichtümern, prunkvollen Statuen und Dutzenden von Pilgern.
Nach vielen kulturellen Sehenswürdigkeiten freuen wir uns, einige der höchsten Berge der Welt zu sehen. Wir haben uns gut vorbereitet und Schneeketten gekauft für den nächsten Streckenabschnitt. Schliesslich ist es Ende November und im Himalaya führen uns die Pässe bis auf 5’248 müM - nicht umsonst nennt man Tibet auch das “Dach der Welt”. Dass es in dieser Region kaum Niederschlag gibt und selbst im Winter bei eisigen Minusgraden kein Schnee liegt, war uns nicht bewusst. Sollen wir uns nun freuen, dass wir die extra gekauften Ketten nicht brauchen? Wir sind uns nicht ganz einig😉
Bis zum Everest Base Camp führt eine gut ausgebaute Strasse. Es dürfen jedoch nur Bergsteiger mit entsprechender Bewilligung so nah an den Berg. Als normale Touristen wird man mit einem Shuttlebus in ein vorgelagertes Camp gefahren. Dieses liegt direkt neben dem höchsten Kloster der Welt und bietet eine tolle Aussicht auf den Everest. Es ist eindrücklich, den weltbekannten Berg mit eigenem Auge zu sehen und nicht nur in einem der vielen Abenteurerfilmen. Wir sind erstaunt, dass er nicht viel mächtiger aussieht, als die Berge in der Schweiz. Doch eigentlich verständlich, liegt die Hochebene selbst bereits auf 5’000 müM und damit der Gipfel des Bergmassivs “nur” 3’800 Meter aus dem Boden ragt. Da die Luft allerdings bereits hier spürbar dünn ist, können wir uns gut vorstellen, wie sich tödliche Dramen auf dem Gipfel abspielen. Wir sind froh, dies nur aus der Ferne zu erahnen.
Die Weiterfahrt führt uns an 2 weiteren, der 14 Achttausender der Welt, vorbei. Kurz vor der Grenze Nepals endet die Hochebene und es geht es stetig bergab. Die Umgebung ändert sich rasant und verwandelt sich in eine mit Bäumen, Insekten und vielen Tieren besiedelte Landschaft.
Bald verlassen wir Tibet, verabschieden uns von unserem Guide und reisen alleine weiter durch Nepal. Wir schauen mit gemischten Gefühlen zurück auf unsere Zeit in China. In diesem riesigen Land haben wir einmalige Einblicke in neue Kulturen erhalten und wunderbare Landschaften passiert. Besonders der tibetische Buddhismus hat uns tief beeindruckt und das Interesse geweckt, uns weiter mit den Lehren und Praktiken dieser Religion zu befassen. Es war schockierend zu sehen, wie China versucht, seinen Einfluss stets weiter auszubauen und die Kultur der Tibeter langsam verschwinden zu lassen. Nichts desto trotz gilt es aber auch positive Dinge zu erwähnen, in welchen China eine gewisse Vorreiterrolle in Asien übernimmt. So haben wir beispielsweise kaum ein Land angetroffen, welches so sauber war. Während wir in Nepal auf zugemüllte Strassenränder und stinkende Flüsse treffen werden, ist China ähnlich “gepützelt” wie die Schweiz. In den Siedlungen gibt es grosse Parks und breite, durch Baumalleen gesäumte Strassen. Dank vielen E-Scootern und Elektroautos ist die Luftqualität auch in den Grossstädten erstaunlich gut und die Lärmemissionen gering. Errungenschaften, die wir in Nepal und Indien vermissen werden.