Der verschwundene See
Es war einst der viertgrösste Binnensee der Erde. Heute ist der Aralsee auf 10% seiner ursprünglichen Fläche geschrumpft. Während Kasachstan entlang der Grenze einen Staudamm baute, um immerhin “seinen” Teil des Sees zu retten, schreitet die Verlandung auf der usbekischen Seite weiter voran. Das Verschwinden des Aralsees ist eine der grössten menschengemachten Umweltkatastrophen der Geschichte. Doch was ist hier passiert?
Ursprünglich lebte die Bevölkerung am Aralsee vom Fischfang. Die Kommunisten aber träumten von einer autarken Baumwollproduktion. Lange schon hatten sie darüber fantasiert, die gewaltigen Wüstengebiete in Baumwollplantagen umzuwandeln. In den 50er Jahren nahm man sich dem Megaprojekt an und mehrere tausend Kanalkilometer wurden mit Bulldozern, Baggern und purer Muskelkraft durch die Wüste gegraben. In nur 20 Jahren wurde die Hektarzahl der bestellbaren Fläche in Usbekistan beinahe verdoppelt. Nahezu alle Bauern des Landes bauten das weisse Gold an und produzierten gemeinsam rund drei Viertel der sowjetischen Baumwolle.
Doch die Auswirkungen waren katastrophal! Die einst riesigen Zuflüsse Sidarja und Amudarja verwandelten sich in kleine Rinnsale. Das wenige Frischwasser, das noch in den See gelangte, konnte die Verdunstung nicht mehr kompensieren und der See begann auszutrocknen. Anfangs ging es langsam. Da aber immer grössere Gebiete der Wüste zu Baumwollfeldern gemacht wurden, beschleunigte sich der Prozess. In den 80er Jahren fiel der Wasserpegel beinahe um einen Meter pro Jahr. Aber wieso haben die Behörden einfach zugesehen, wie der viertgrösste Binnensee der Erde zunehmend verschwand? Das Ganze war anscheinend exakt kalkuliert. Für sie war die Baumwolle lohnender als Fisch.
Da wir viel über das tragische Schicksal des Aralsees gelesen haben, beschliessen wir, die Tragödie mit eigenen Augen sehen zu wollen. Doch der Weg zum See ist lange und unzugänglich. Normalerweise fahren Touristen die Strecke nur im Rahmen einer gebuchten Tour mit Jeep und einem ortskundigen Führer. Würden wir die Sandpisten mit unserem VW-Crafter überhaupt passieren können? Was, wenn wir im Wüstensand stecken bleiben? Trotz gewisser Skepsis entscheiden wir uns für das Abenteuer, senken den Reifendruck ab und fahren los. Die lange Fahrt über buckelige, sandige Wege ist anstrengend. Doch nach vier Stunden endloser Steppen- und Wüstenlandschaft werden wir belohnt. Das flache Hochplateau bricht abrupt in einen Canyon ab. Dahinter erstreckt sich das ausgetrocknete Seebecken und in weiter Ferne eine blaue Fläche – der Rest des Aralsees.
Nach einer Wanderung an die Küste fahren wir weiter nach Moynok. Noch in den 50er Jahren lag die Stadt direkt am See. Heute erinnern nur noch verrostete Schiffe daran, dass die Ortschaft einmal vom Fischfang lebte. Rund vier Stunden dauert die Fahrt vom Wasser bis zur ehemaligen Küstenstadt. Wir fahren durch einen endlosen Flickenteppich aus Disteln, Sand und Gebüsch. Der ehemalige Seeboden ist mit Muscheln übersät. Dazwischen glitzern Salzkristalle – Mineralsalze, aber auch Pestizide aus der Baumwollproduktion, welche sich im See konzentriert haben.
Nach dem Verschwinden des Wassers wurden im ehemaligen Seebecken grosse Gasvorkommen entdeckt. Und so fahren wir auf unserem Weg nach Moynok vorbei an flackernden Bohrtürmen und neu gebauten, riesigen Gaspipelines. Statt den Verlust des viertgrössten Binnensees der Erde zu beklagen, geht die Profitgier in Usbekistan weiter. Schockierend zu sehen, wie wenig der Mensch aus Fehlern zu lernen scheint.