Gezähmte Wüste
Unser vorgegebenes Programm ist straff und die Fahrtage lang. Laut Plan sollten wir täglich jeweils 5-6 Stunden Auto fahren, um diverse Sehenswürdigkeiten im Norden zu besuchen. Doch auf der Autobahn im Eiltempo Kilometer zurückzulegen, um vorgegebene Attraktionen abzuhaken, entspricht uns nicht. Wir sind müde vom Fahren und sehnen uns nach authentischen Erlebnissen.
Ein Blick auf die Karte eröffnet uns neue Möglichkeiten. Südlich von uns erstreckt sich die Taklamakan-Wüste, die zweitgrösste wandernde Sandwüste der Welt. Die von der Reiseagentur geplante Route würde die Wüste im Norden umfahren. Studieren wir die Satellitenbilder jedoch im Detail, erkennen wir eine Strasse, welche mitten durch das endlose Sandmeer führt. Unser Herz schlägt höher. Quer durch diese riesige Wüste zu fahren und die Naturgewalt dieser Landschaft zu erfahren, würde uns wohl nachhaltiger in Erinnerung bleiben, als im Norden historische Grabungen abzuklappern.
Nach Rücksprache mit unserer Reiseagentur, dürfen wir die geplante Route tatsächlich verlassen. Wir füllen Wasser- und Dieseltank, decken uns mit Essensvorräten ein und wagen das Abenteuer. Vorbei an riesigen Baumwollplantagen fahren wir der Wüste entgegen. Anders als in Usbekistan erfolgt die Baumwollernte in China maschinell. Immer wieder überholen wir Lastwagen, welche die riesigen Rundballen in grosse Baumwollfabriken transportieren. Was wohl hinter den hohen Mauern passiert? Wir stoppen bei einer Fabrik und erkundigen uns, ob eine Besichtigung möglich wäre. Die Absage erstaunt uns nicht.
Die Nacht verbringen wir bei einem in der Wüste versickernden Fluss. Die Landschaft ändert sich nun rapide. Die Bäume werden immer krüppeliger und verschwinden schliesslich ganz. Was bleibt ist Sand, ein endloses Meer an Sand!
Früher war dies einer der tödlichsten Orte dieser Welt. Im Sommer unerträglich heiss, im Winter eisig kalt, konnte hier kein Mensch lange überleben. Heute donnern tonnenschwere Lastwagen von Nord nach Süd. Regelmässige Funkantennen ermöglichen einen lückenlosen Internetempfang. Die Chinesen scheinen keinen Aufwand zu scheuen. Kaum vorstellbar, führt eine perfekt geteerte Strasse über 500km Länge quer durch das endlose Sandmeer. Mehrere Buschreihen (teils mit Tröpfchenbewässerung!) oder ein Mosaik aus in den Sand gesteckten Gräsern säumen die Strasse. Sie befestigen den losen Sand und verhindern, dass die wandernden Dünen die Strasse verschlingen.
Etwas abseits der Hauptstrasse errichten wir unser Zelt inmitten der Sanddünen. Da unsere Begleiterin letzte Nacht fast erfroren wäre, bieten wir ihr unser Bett im geheizten Büssli an. Doch geweckt werden wir am nächsten Morgen nicht durch die Kälte, sondern durch dumpfe Detonationen in der Ferne. Das Beben des Bodens ist unheimlich. Was passiert hier inmitten der Wüste? Erst später, als wir an Ölfeldern vorbeifahren, wird uns klar, woher die Explosionen stammen mussten.
Nach einem langen Fahrtag (480km) erreichen wir um sieben Uhr abends müde eine Polizeistation. Wie üblich möchte der Beamte wissen, wo wir zu übernachten gedenken. Als er jedoch erfährt, dass wir in Mangnai, dem nächsten Dorf, ein Hotel beziehen möchten, wird er bestimmt. Mangnai sei in einer militärischen Sperrzone. Als Ausländer hätten wir keinen Zutritt zu diesem Gebiet. Wir müssen entweder zurück zur letzten Ortschaft (200km) oder auf der Autobahn bis nach Golmud (500km) durchfahren. Wir sind völlig vor den Kopf gestossen und wollen uns wehren. Janosch versucht zu argumentieren: Wir sind müde nach einem langen Fahrtag. Im Dunkeln nach Golmud durchzufahren sei gefährlich. Wer würde zahlen, wenn es unter diesen Umständen zu einem Unfall komme? Doch der Polizist lässt sich nicht beeindrucken. Einer Autorität hat man sich in China nicht zu widersetzen. «Bitte hör auf zu diskutieren», warnt unsere Begleiterin sichtlich nervös, «Sonst kriegen wir noch Probleme!» Um unsere Weiterreise nicht zu gefährden, müssen wir das Unrecht akzeptieren. Widerwillig lassen wir uns durch ein Polizeifahrzeug zur Autobahn eskortieren. Sollten wir diese vor Golmud verlassen, würde unsere Begleiterin in den Knast gesteckt. Dies möchten wir natürlich nicht riskieren. Und so fahren wir weitere fünf Stunden durch die Dunkelheit, bis wir um 00:30 Uhr endlich Golmud erreichen. Was die Regierung auf den 500km zwischen Mangnai und Golmud zu verstecken hat, bleibt uns verborgen.
Vor unserer Weiterreise nach Tibet möchten wir einen bekannten Salzsee im Norden Golmuds besuchen. Auf eigene Faust, bis zum Seeufer zu fahren, stellt sich als unmöglich heraus. Tiefe Kanäle zerschneiden die Landschaft. Riesige Flächen sind komplett umgeackert, die Förderung von Salzen und Mineralien hinterlässt tiefe Spuren. Neben der Chemieindustrie wurde eine Touristenattraktion aufgebaut und gegen ein Eintrittsgeld wird man per Shuttle zum Ufer des Sees gefahren. In einer unwirklichen Salzlandschaft findet sich dort ein Katalog von künstlich errichteten Fotosujets (Schaukeln, Bilderrahmen etc.) Hier posieren chinesische Touristinnen im Glitzergewand für das nächste Tiktok-Video. Das Bild wird untermalt von lieblicher Märchenmusik, welche auf dem ganzen Gelände aus Lautsprechern trällert. Welch authentisches Naturerlebnis!