Verschwundenes Königreich

China •

In Golmud wartet unser neuer Guide auf uns, ein Tibeter, welcher uns die nächsten zwei Wochen begleiten wird. Wir verlassen das Flachland und fahren in die Höhe. Auf einer gut ausgebauten Strasse rollen wir auf endlosen Hochebenen den weissen Gipfeln in der Ferne entgegen. Anders als in Zentralasien weiden in diesen Steppen keine Nutz-, sondern Wildtiere. Da die Jagd in Tibet verboten ist, sind die Tiere wenig scheu und Wildesel und Tibetantilopen lassen sich aus nächster Nähe beobachten.

Die tiefen Temperaturen in der Nacht (bis -18°C) führen dazu, dass unsere Wasserleitungen einfrieren und alte Diskussionen über das Heizmanagement erneut entflammen. Der Konflikt resultiert in einem leeren Wassertank, entlüfteten Leitungen und dem Versprechen von Nadine, sich einen Monat lang nicht mehr ins Heizregime einzumischen😉

Über die weiten Grasebenen von Changthang, vorbei an tausenden von grasenden Yaks, fahren wir zum Nam Co See. Der heilige See ist für Tibeter ein Pilgerziel. Auf dem Weg zur Erleuchtung umlaufen sie ihn im Uhrzeigersinn, der sogenannten Kora. Tashi Dor, eine Halbinsel im See, war ursprünglich eine heilige Pilgerstätte. Während der “Kulturellen Revolution” unter Mao wurde das Kloster, wie Tausende von Klöstern in Tibet, komplett zerstört. Später zwar wieder aufgebaut, hat es heute wenig von der einstigen Pracht. Die Halbinsel wurde zur Touristenattraktion umfunktioniert. Statt Pilgern treffen wir chinesische Touristen an, welche sich am Strand mit geschmückten Yaks ablichten lassen. Für das Kloster oder die Manisteine in den Karsthöhlen scheinen sie sich wenig zu interessieren.

Mit Lhasa erreichen wir am nächsten Tag die Hauptstadt Tibets. Fast 900’000 Einwohner zählt die Stadt, welche in den letzten 70 Jahren stark gewachsen ist. Nicht zuletzt wegen der gezielten Ansiedlung von Han-Chinesen. Wahrzeichen der Stadt ist der Potala-Palast, ehemaliger Sitz des Dalai Lama. Dieser lebte hier bis 1959 als spiritueller Führer Tibets. Nach der Annektierung durch China floh er nach Indien, wo er bis heute aus dem Exil für die Unabhängigkeit des Landes kämpft. In Tibet sind Fotos von Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama, verboten. In den Köpfen der Einheimischen aber bleibt er das Oberhaupt ihres eingenommenen Landes. Was wird nach seinem Tod geschehen? Die buddhistischen Tibeter glauben an die Reinkarnation. Nach dem Tode eines Dalai Lamas wird normalerweise ein Suchtrupp losgeschickt, welcher den wiedergeborenen Dalai Lama finden soll. Da Tenzin Gyatso jedoch befürchtet, dass die Kommunistische Partei nach seinem Tod den neuen Dalai Lama selbst auswählen und erziehen wird, um dadurch ihren Einfluss in Tibet noch weiter zu vergrössern, hat er verkündet, nicht mehr wiedergeboren zu werden. Die chinesische Regierung widersprach, der Dalai Lama könne nicht über seine Wiedergeburt entscheiden. Das Volk aber steht hinter ihrem spirituellen Führer.

Unser Guide führt uns durch den Potala-Palast, welcher heute nur noch wenige Mönche beherbergt. Wir staunen über riesige Räume mit übergrossen goldenen Buddha-Statuen und reich verzierten Stupas. Die Reichtümer, welche hier über Jahrhunderte angesammelt wurden, sind überwältigend! Da die Innenräume der Klöster nicht fotografiert werden dürfen, bleiben die Bilder in unseren Erinnerungen.

Mit dem Jokhang-Tempel besuchen wir anschliessend die wichtigste Pilgerstätte des Landes. Was Mekka für Muslime ist, stellt der Jokhang für tibetische Buddhisten dar. Pilger strömen aus dem ganzen Land nach Lhasa, um den Tempel aufzusuchen und in einer Kora zu umrunden. Dabei murmeln sie Mantras und werfen sich immer wieder zu Boden.

Auf einer Dachterrasse sitzend folgend wir dem Schauspiel. Man könnte meinen, es sei alles in Ordnung und die Menschen in Tibet dürften ihre Traditionen und Religionen frei ausüben. Doch die Unterdrückung ist heute subtiler geworden. Wer genau hinschaut, erkennt, dass jede Strasse und jeder Klostergang von einer Kamera überwacht wird. In den Klöstern lebt nur noch ein Bruchteil der Mönche. Während diese früher von den Almosen der Bevölkerung lebten, zahlt ihnen heute der Staat einen Lohn aus. Dadurch werden die Mönche abhängig und dürfen nur noch unter Zustimmung der Regierung handeln. Indem die Mönche zu Staatsangestellten wurden, hat auch ein Wertewandel stattgefunden. Mit dem ausgezahlten Lohn können sich die modernen Mönche weltliche Luxusgüter leisten. Die ursprünglichen Werte eines entbehrlichen Lebens zerfallen langsam.

Der Einfluss der Kommunistischen Partei erstreckt sich über alle Lebensbereiche. Wie wir erfahren, besitzen die meisten Tibeter keinen Pass. Das Land zu verlassen, bleibt ihnen also verwehrt. Die tibetische Sprache darf zwar gesprochen werden, in Schulen aber wird lediglich Chinesisch gelehrt. Da die Kinder ab der 4. Klasse in staatlichen Internaten leben müssen und die Familien nur noch wochenends sehen, verlieren sie langsam den Bezug zu ihren Wurzeln. Teils würden Kinder ihre Eltern bereits darum bitten, chinesisch mit ihnen zu sprechen, da sie diese sonst schlecht verstehen würden. Das Ziel der kommunistischen Partei eines einheitlichen Chinas ist kein Geheimnis. Auf grossen Propoganda-Plakaten im ganzen Land werden die Tibeter täglich dazu aufgefordert ihre Kultur zu vergessen, den Parteigeist zu stärken und eine neue nationale Einheit aufzubauen.