Willkommen im Überwachungsstaat
Nach dem Grenzübertritt verbringen wir die ersten Tage in der 2 Millionen-Stadt Kashgar, in der autonomen Provinz Xinjiang. Mit 17.3% der Gesamtfläche, ist es die grösste Provinz Chinas. Ursprünglich bewohnten Uiguren, Kasachen und andere muslimische Völker diese Gegend, bis sie im 20. Jahrhundert von China annektiert wurde. Schleichend vergrösserte China seinen Einfluss und begann die ursprüngliche Bevölkerung massiv zu unterdrücken. Es wird von Umerziehungslagern, schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit bis zu Völkermord gesprochen. Für einen Einblick ist das Buch “Die Kronzeugin: Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft” empfehlenswert. Wir reisen mit gemischten Gefühlen ein. Einerseits freuen wir uns auf tolle Landschaften, interessante Begegnungen und darauf, das Reich der Mitte kennenzulernen. Andererseits fragen wir uns, ob es überhaupt vertretbar ist, als Touristen diese Region zu bereisen. So wollen wir zumindest transparent berichten, was sich hier zuträgt, und was wir erleben.
In Erinnerung an chinesische Restaurants zu Hause, freuen wir uns riesig auf chinesisches Essen: Peking-Ente, Poulet süss-sauer, gebratener Reis, Frühlingsrollen et cetera. Wie wir am ersten Abend schnell merken, isst man in China aber nicht überall das Gleiche. Was eigentlich vollkommen logisch ist, bei diesem riesigen Land mit ursprünglich verschiedenen Kulturen. In Xinjiang, mit uigurischem Hintergrund, gibt es ähnliche Gerichte wie in Zentralasien - auch sehr lecker! Wir merken schnell, dass wir als westliche Touristen eine Attraktion sind. Immer wieder werden wir freundlich angesprochen, um Fotos mit uns zu machen. Wir erleben, wie überall auf unserer Reise, die Leute als sehr freundlich, zuvorkommend und interessiert. Was uns jedoch schnell auffällt, sind die unzähligen Überwachungskameras. Es gibt keinen Winkel, der nicht überwacht ist.
Am nächsten Tag schlendern wir durch die moderne Stadt Kashgar, sicher bewacht durch die vielen Kameras, in Richtung historischer Altstadt. Die entpuppt sich jedoch mehr als Disneyland, als als geschichtsträchtiger Ort. Wir erfahren, dass sie erst vor wenigen Jahren “restauriert” wurde. Die jahrhundertealten Lehmhütten wurden abgerissen und durch “sicherere” Backsteinhäuser ersetzt, welche alt aussehen sollen. Für etwas Kleingeld hüllen sich chinesische Touristen in ursprüngliche uigurische Gewänder und lassen sich in speziell hergerichteten “Handwerksgassen” ablichten. Es wäre spannend zu wissen, was die Uiguren darüber denken. Setzt man sich mit dem Hintergrund der Unterdrückung nicht auseinander, könnte man der chinesischen Version glauben, dass hier mittlerweile alles in Ordnung ist. Kashgar als moderne chinesische Grossstadt, in der verschiedene Ethnien Hand in Hand glücklich zusammenleben.
Spreizt man jedoch die Fühler aus, erkennt man, wie die Unterdrückung subtil geworden ist:
- Im Gespräch fragen wir einen Uiguren, ob er bereits einmal im Ausland war. Er verneint, da er keinen Pass habe. Dieser sei für ihn als Uigure viel schwerer zu bekommen, als für Han-Chinesen. Kurz darauf korrigiert er sich, und meint, dass es eigentlich auch für ihn gut möglich wäre, und nur minimal aufwändiger.
- In Kashgar steht die grösste Moschee Chinas, die angeblich weiterhin aktiv von den Uiguren genutzt wird. Sie wirkt im Vergleich mit anderen Moscheen sehr klein, billig gemacht und wir sehen nur chinesische Touristen darin. Davor ein Plakat: “Das zeigt voll und ganz, dass unser Land eine Politik der Religionsfreiheit umsetzt und die Glaubensfreiheit der Bürger im Einklang mit dem Gesetz schützt.”
- Nur in Xinjiang und Tibet werden Tankstellen bewacht. Diese sind umzäunt und durch die Polizei geschützt. Eintritt gibt es nur mittels chinesischer ID-Karte und Gesichtsscan.
- Es gibt unzählige Polizei Checkpoints, an welchen ein Gesichtsscan gemacht wird. Das Interessante: die Uiguren haben viel Respekt/Furcht vor diesen, die Han-Chinesen jedoch schätzen sie: viele Kameras und Checkpoints dienen der Sicherheit. “Wie sollen sonst Verbrechen aufgeklärt werden?”
- Als wir jemand fragen, wie das Zusammenleben der verschiedenen Kulter funktioniert, erzählt die Person: “Die verschiedenen ethnischen Gruppen leben hier nahe beieinander und halten zusammen, wie Kerne in einem Granatapfel.” Eine Metapher, die wir noch nie gehört haben. Wir staunen, als wir später auf der oben genannten offiziellen chinesischen Seite genau diesen Satz lesen. Es wird hier wohl gelehrt, wie die Bevölkerung auf kritische Fragen zu antworten hat.
Leider gibt es noch viele weitere Beispiele, die den Rahmen hier jedoch sprengen würden.
In China, oder zumindest in Xinjiang und Tibet, ist es vorgeschrieben, immer mit einem Guide unterwegs zu sein. So fahren wir nach vier Tagen in Kashgar zu Dritt, mit unserer Begleiterin, weiter ostwärts. Alle paar Kilometer blitzt eine Kamera, und wir schauen jeweils erschreckt auf den Tacho. Jedes Mal müssen wir neu realisieren, dass hier jedes Auto immer wieder registriert wird, nicht nur die Schnellfahrer. In Aksu essen wir zu Abend und suchen aufgrund der bereits dunklen Nacht stadtnah einen Übernachtungsplatz. Für unsere Begleiterin wird es die erste Zeltnacht in ihrem Leben. Normalerweise in einer Grossstadt zu Hause, staunt sie über die Ruhe, die Sterne am Himmel und die Starlink-Satelliten, die vorbeiziehen. Wir schmunzeln ein wenig, übernachten wir doch leicht hörbar neben einer Strasse und nahe der Stadt. Es zeigt uns, wie die Erlebnisse relativ sind.
Viele Autobahnkilometer weiter, auf perfekt ausgebauten Strassen, erreichen wir mit Kuqa unser nächstes Zwischenziel. Nach einigen Tagen in Städten, stehen wieder Natur und Landschaft im Vordergrund. Der “Tienshan Grand Canyon” wird als Grand Canyon Chinas angepriesen. Er ist in der Tat wunderschön und hat Ähnlichkeiten mit dem Grand Canyon in Arizona. Was uns befremdet, ist die “Herrichtung” der Attraktion. Es gibt einen einzigen Pfad durch den Canyon, der für Touristen offen ist. Dieser ist grösstenteils mit Beton ausgegossen, gut gesichert durch Geländer und überall durch Kameras überwacht. Sicherheit steht im Vordergrund und die Gefahr von Ausrutschern oder durch andere Personen soll minimiert werden. Die chinesischen Touristen fühlen sich hier sichtlich wohl und geniessen die - hergerichtete - Natur.